blauPAUSE

Teilen

Blog

„Ich glaube immer noch an das Gute im Menschen“

Philippe Leclerc arbeitet bereits über 30 Jahre für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), seit Ende 2023 als Regionaldirektor für Europa. Im Interview berichtet er von aktuellen Herausforderungen des europäischen Asylsystems und wieso er trotzdem optimistisch in die Zukunft blickt.

UNO-Flüchtlingshilfe: Sie leiten seit Ende letzten Jahres UNHCR Europa. Gab es viel Neues zu entdecken?
Das traurigste und herausforderndste Thema ist die Hilfe für die, die unter den Folgen des Krieges leiden, der seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wieder in Europa tobt. Wenn diese Zeilen gelesen werden, sind wir dem Frieden hoffentlich etwas nähergekommen. Ich bin seit mehr als 30 Jahren bei UNHCR und habe in vielen Ländern gearbeitet. Das Europabüro deckt 49 sehr unterschiedliche Länder ab, es ist herausfordernd und faszinierend zugleich. Wichtige Aufnahmeländer, wichtige politische Akteure und wichtige Geber. Zum Beispiel Deutschland, das nicht nur vielen Flüchtlingen Schutz bietet, sondern auch unser zweitgrößter Geber ist. Die Länder Europas sind manchmal sehr unterschiedlich, stehen aber dennoch vor gemeinsamen Herausforderungen.

Sie meinen das Asylsystem?
Die Zahl der Menschen, die in Europa Schutz suchen, ist zwar gestiegen, aber im Vergleich zu vielen anderen Kontinenten immer noch niedrig. Dennoch fehlt den 27 EU-Staaten eine einheitliche Asylpolitik. Das ist übrigens nicht nur problematisch für die Schutzsuchenden, von denen viele Sicherheit brauchen, weil sie vor Gewalt, Konflikten, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen geflohen sind. Es ist auch für die EU-Länder selbst unglücklich. Mit einem gemeinsamen Ansatz könnten sie nicht nur den Menschen wirksamer helfen, sondern auch die Chancen für ihre Gesellschaften und Volkswirtschaften viel besser nutzen. UNHCR wird weiter mit den Staaten und der Europäischen Kommission zusammenarbeiten.

Wir brauchen effiziente Lösungen, um zwischen Menschen, die vor Verfolgung und Krieg fliehen, und solchen, die aus anderen Gründen nach Europa kommen, zu unterscheiden. Und für letztere ist das Asylverfahren nicht gemacht.

 

Ist diese Herausforderung bei mehr als einer Millionen Asylanträgen im vergangenen Jahr überhaupt zu bewältigen?
Der weitaus größte Teil der Flüchtlinge in der Welt lebt in ärmeren Ländern wie Uganda, Kenia, Bangladesch oder dem krisengeschüttelten Libanon. Und dann sollen die wohlhabenden Länder in Europa nicht in der Lage sein, dies zu bewältigen? Natürlich können sie das! Die Frage ist nur, ob der politische Wille vorhanden ist, dies zu tun und die Chancen zu nutzen, die diese Menschen mit sich bringen können, wenn sie sich in Aufnahmegesellschaften integrieren können und eine Chance erhalten. Oder ob man sich hauptsächlich auf Abschreckung konzentriert und denjenigen, die internationalen Schutz benötigen, diesen verweigert.

Aber Pushbacks scheinen heute ganz normal zu sein...
Das sind sie nicht, und sie dürfen niemals normal sein. Das Zurückdrängen von Menschen, die internationalen Schutz suchen, verstößt gegen das internationale und europäische Recht. Dies steht auch in krassem Gegensatz zu den moralischen Werten, auf die Europa zu Recht stolz ist. Wir von UNHCR können dies nicht oft genug betonen.

Alle Menschen, die internationalen Schutz suchen, müssen die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen.

Viele Flüchtlinge sind auf der Suche nach Schutz innerhalb Europas unterwegs. Wie hilft UNHCR?
UNHCR setzt sich aktiv für die Integration von Flüchtlingen ein, die in vielen Ländern in Europa Schutz gefunden haben, und unterstützt die Regierungen der Aufnahmeländer. Obwohl viele Fortschritte erzielt wurden, sind wir besorgt darüber, dass viele Flüchtlinge durch das Raster fallen. Das gilt insbesondere für die Schwächsten, wie Ältere und Menschen mit Behinderungen. Derzeit besucht nur die Hälfte der Flüchtlingskinder in den Aufnahmeländern eine reguläre Schule, und ebenso viele haben Schwierigkeiten beim Zugang zu Beschäftigung oder anderen Dienstleistungen, etwa der Gesundheitsversorgung.  Wir begrüßen die Verlängerung des vorübergehenden Schutzes in der EU bis März 2025. Aber der Schwerpunkt muss weiterhin darauf liegen, die schutzbedürftigsten Personen vollständig in die nationalen Systeme der Aufnahmeländer einzubeziehen und Hindernisse zu beseitigen.

 

Erleben wir ein Ende der Solidarität? 
Nein, das glaube ich nicht. Im Gegenteil, denken Sie nur an die Solidarität, die Millionen von ukrainischen Flüchtlingen erfahren haben. So viele Menschen haben gespendet, geholfen, unterstützt und oft ihre Türen geöffnet. Und bevor Sie sagen, dass das ein Einzelfall war: Ich war im Oktober in Armenien, als gerade mehr als 100.000 Flüchtlinge aus Karabach angekommen waren. Die Hälfte von ihnen waren Kinder oder ältere Menschen. Die Behörden und gerade auch die Menschen leisten unglaubliche Arbeit bei der Aufnahme dieser Menschen. Nach wenigen Wochen war bereits die Hälfte der Kinder in den örtlichen Schulen angemeldet. Die Solidarität der Armenier war einfach überwältigend.

Aber ist diese Solidarität nicht immer auf den Nachbarn beschränkt? Im Gegensatz zu den Flüchtlingen aus der Ukraine haben die Menschen aus Nahost keine Hilfe erfahren.
Ich sehe das ganz anders. Natürlich haben wir vor zwei Jahren vor allem über die Ukrainer gesprochen, da hatte der Krieg gerade begonnen. Aber davor haben wir vor allem über Afghanen gesprochen, davor über Syrer und davor über Flüchtlinge aus dem Irak und anderen Ländern. Und die Hilfe und Solidarität, die ich jedes Mal erlebt habe, war berührend. Aber das schafft es nicht immer in die Schlagzeilen.

Es stimmt, dass wir in vielen Ländern einen Wandel hin zu einer härteren, rechtsgerichteten Politik erleben und Politiker sich auf populistische Agenden konzentrieren. Aber Millionen Europäer engagieren sich nach wie vor für Flüchtlinge, unterstützen sie, wo sie nur können, gehen mit ihnen zu Vorstellungsgesprächen, bringen ihnen Sprachen bei, treiben gemeinsam Sport oder öffnen ihnen sogar die Tür zu ihrem Haus. Das geschieht jeden Tag. Wir müssen weiter auf Empathie und Integration setzen.

Flüchtlinge bringen Fähigkeiten und Fertigkeiten mit und können den Ländern, die sie aufnehmen, sehr viel bieten, wenn man ihnen das ermöglicht.

Wege der Flucht

Auf der Suche nach Schutz und Sicherheit nehmen Geflüchtete riskante Fluchtrouten in Kauf. Das Mittelmeer ist eine davon. Erfahren Sie mehr über weltweite Fluchtrouten in FLUCHTPUNKT.

ZUM MAGAZIN

Aber es wird immer weniger.
Natürlich ist die Solidarität direkt nach einer Katastrophe oder Krise immer am größten, sei es direkt nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine oder nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei vor einem Jahr. Auch dort waren viele Flüchtlinge betroffen, UNHCR hat geholfen und wir haben so viel Unterstützung erfahren. Es ist normal und menschlich, dass sich die Dinge mit der Zeit verlangsamen. Aber die Menschen helfen weiter, auch nachdem das Ereignis aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Ich bin zuversichtlich, dass sich Menschen angesichts solcher Tragödien weiterhin mobilisieren werden.
 
Sind Sie ein Optimist? Trotz aller Krisen?
Ja, das bin ich. Durch meinen Beruf bin ich fast ständig in Krisengebieten. Man sollte meinen, dass man verzweifelt und depressiv wird. Aber bei all dem Schlimmen, das ich erlebe, der Aggression, der Brutalität, der Intoleranz und der Gewalt, sehe ich umso mehr das Gute. Solidarität, Mitgefühl, Hilfe, Einfühlungsvermögen und Freundlichkeit. Leider braucht es nur eine Minderheit, um ganze Regionen ins Chaos zu stürzen.

Aber ich glaube immer noch an das Gute im Menschen. Und ich sehe es jeden Tag.

In Armenien und der Ukraine. In Polen und Moldawien. In Spanien, Italien, Frankreich und vielen anderen Ländern der Region. Und natürlich auch in Deutschland.

Wir freuen uns, wenn Sie Anmerkungen oder Feedback zu unseren Blogbeiträgen hinterlassen. Um eine faire und sachliche Diskussionskultur zu gewährleisten und sicherzustellen, dass die Kommentare unseren Communitystandards entsprechen, werden die Beiträge nach einer kurzen Überprüfung freigegeben.

Krieg in Europa

Seit zwei Jahren leiden die Menschen in der gesamten Ukraine unter dem Angriffskrieg Russlands. Mit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 eskalierte der bereits seit 2014 im Osten der Ukraine schwelende Konflikt.

Zwischenzeitlich war ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung auf der Flucht. Damit wurde die Ukraine zum Schauplatz der größten Vertreibungskrise der Welt.

JETZT INFORMIEREN UND HELFEN

Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

Die Nutzungsbedingungen zu akzeptieren ist erforderlich!

Bitte akzeptieren

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Teilen Sie Ihre Gedanken mit uns.