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"Es gibt viele Hürden und Blockaden für die zivile Seenotrettung."

Till Rummenhohl, Geschäftsführer von SOS Humanity, berichtet im Interview von den Herausforderungen seiner Arbeit angesichts alarmierender Todeszahlen im Mittelmeer und der stockenden internationalen Zusammenarbeit.

Der Weg über das Mittelmeer ist die gefährlichste Flucht- und Migrationsroute der Welt: Nach Schätzungen des UNHCR sind seit Beginn des Jahres bis Juli 2023 fast 2.000 Menschen dort auf der Suche nach Sicherheit und Schutz umgekommen. Dabei ist klar: Seenotrettung ist eine Pflicht und Ausdruck grundlegender humanitärer Werte und des Mitgefühls. Eine wichtige Rolle spielt dabei die nicht-staatliche Seenotrettung, der sich das Team von SOS Humanity verschrieben hat. Geschäftsführer Till Rummenhohl schildert im Interview seine Eindrücke und Forderungen in der aktuellen Situation.

UNO-Flüchtlingshilfe: Erzähl uns zu Beginn bitte etwas zu Deiner Arbeit und Deiner Motivation.

Till Rummenhohl: Ich bin seit sieben Jahren in der zivilen Seenotrettung aktiv – die humanitäre Katastrophe auf dem Mittelmeer bestimmt weitgehend mein Leben. Ich bin seit meiner Kindheit Hobbysegler und von Beruf Schiffbauingenieur und Meerestechniker. Im Rettungseinsatz war ich erstmals ehrenamtlich auf unserem ersten Schiff, der Aquarius, von August bis Oktober 2016. Was ich dort erlebte, hat mich nie mehr losgelassen. Ich wurde Mitglied im Verein, der damals noch SOS Mediterranee Deutschland e.V. hieß. Dort war ich von 2018 bis 2021 Vorstandsmitglied. Als der deutsche Verein sich im Januar 2022 vom SOS Mediterranee-Netzwerk löste, um als SOS Humanity mit einem eigenen Schiff, der Humanity 1, mehr Menschen zu retten, baute ich die neue Schiffsoperative von SOS Humanity auf und wurde deren Leiter. Seit Juni 2023 bin ich zusätzlich auch Geschäftsführer der Organisation SOS Humanity.

Wie ist aktuell die Situation auf dem Mittelmeer?

Es sind jetzt fast neun Jahre vergangen, seit die italienische Seenotrettungsoperation Mare Nostrum beendet wurde. Aber wir stehen noch genauso da wie bei unserer Gründung 2015, als wir anfingen, Mitstreiter*innen und Geld zu sammeln, um ein Schiff für die Rettung der Menschen in Seenot zur chartern. Es gibt nach wie vor weder umfassende staatlich koordinierte und seerechtskonforme Rettung für die Menschen in Seenot auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt, noch sichere alternative Fluchtwege. Weiterhin bezahlen Tausende kriminelle Schlepper und wagen die gefährliche Fahrt in seeuntauglichen, überbesetzten Booten. Derzeit beobachten wir wieder einen deutlichen Anstieg an Überfahrten, und leider auch an Todesfällen. Im ersten Halbjahr dieses Jahres sind so viele Menschen im zentralen Mittelmeer ertrunken, wie seit 2017 nicht mehr. Das zeigt, wie wichtig die Präsenz von Rettungsschiffen wie unserer Humanity 1 im zentralen Mittelmeer ist.

Bei unserem letzten Einsatzzyklus hat die Crew über 400 Menschen gerettet. Darunter waren viele Kinder und Frauen, auch Schwangere. Grundsätzlich sind zu wenige Rettungsschiffe im Einsatz. Manche sind festgesetzt, andere sind für die Ausschiffung zu den zugewiesenen, weit entfernten Häfen unterwegs oder müssen wegen gestiegener Einsatzkosten im Hafen bleiben – es gibt viele Hürden und Blockaden für die zivile Seenotrettung. Schiffe der staatlichen Küstenwache, Rettungseinheiten von Malta und Italien bleiben oft einfach im Hafen liegen, Handelsschiffe ignorieren nicht selten Seenotfälle und fahren schlichtweg an ihnen vorbei. Die Leidtragenden sind die Menschen in Seenot, denen niemand zu Hilfe kommt.

Wie erlebt Ihr die Lage in Italien und in den anderen Mittelmeerstaaten?

Die meisten Menschen, die Europa über das Mittelmeer erreichen, kommen in Italien an – in diesem Jahr bisher rund 75.000 Menschen. Obwohl nur ein Bruchteil von ihnen durch zivile Schiffe gerettet und nach Italien gebracht wird, versucht die italienische Regierung die humanitären Organisationen zu blockieren und unsere lebensrettende Arbeit zu kriminalisieren. Im Januar wurde in Italien ein neues Gesetz erlassen: Nichtstaatlichen Schiffen wird seitdem nach der ersten Rettung umgehend einen Hafen zuweisen. Dieser muss ohne Umwege und Verzögerung angelaufen werden – auch dann, wenn sich in der Nähe weitere Boote mit Menschen in Seenot befinden. Italien praktiziert seitdem die Strategie der Zuweisung weit entfernter Häfen. Mit der Humanity 1 waren wir zuletzt immer drei bis vier Tage unterwegs zu Häfen weit im Norden Italiens, was die vulnerablen Menschen an Bord zusätzlich belastet. Sie haben zuvor oft Tage und Nächte in Todesangst und ohne Wasser und Lebensmittel auf See verbracht. Außerdem werden Rettungsschiffe durch diese Strategie viele Tage von den Fluchtrouten über das Mittelmeer ferngehalten. Das ist perfide und menschenverachtend, denn im Schnitt ertrinken dort aktuell zehn Menschen am Tag. Sichere sizilianische Häfen wären meist in weniger als 30 Stunden erreichbar.

Doch auch andere Mittelmeerstaaten behindern aktiv Seenotrettung. Malta ignoriert regelmäßig Notrufe von Booten mit Geflüchteten, die in ihrem Such- und Rettungsgebiet in Seenot sind – ein klarer Bruch geltenden Seerechts. Und auch Griechenland kommt seiner Pflicht zur Rettung von in Seenot geratenen Menschen oft nicht nach. Das hat tödliche Konsequenzen, wie das vermeidbare Schiffsunglück vor Pylos im Juni mit mehr als 600 Toten zeigt.

Und wie bewertet Ihr die aktuelle Position der Europäischen Union?

Die EU ist in hohem Maße mitverantwortlich für diese Abschottungspolitik. Sie versucht aktiv zu verhindern, dass Schutzsuchende Europa erreichen. Die EU finanziert seit 2016 die sogenannte libysche Küstenwache, damit sie flüchtende Menschen auf dem Mittelmeer abfängt und rechtswidrig nach Libyen zurückbringt – ein Land, in dem Bürgerkrieg herrscht und in dem ihnen schlimmste Menschenrechtsverletzungen drohen. Aber auch die jüngst beschlossene Asylreform auf EU-Ebene und das neue Abkommen mit Tunesien machen deutlich, dass es der EU nicht um den Schutz von Menschen auf der Flucht geht, sondern vor allem darum, diese von Europa fernzuhalten. Durch die fortschreitende Erstarkung rechter Parteien überall in Europa ist der Druck zur Abschottung deutlich gestiegen. In der Folge wird von der EU ignoriert, dass in Tunesien und Libyen massiv die Menschenrechte von Flüchtlingen und Migrant*innen verletzt werden.

Auch wir haben zahlreiche Zeugenberichte an Bord der Humanity 1 aufgenommen, in denen Gerettete von Gewalterfahrung in Tunesien und Libyen berichten.

Für die EU bleibt Tunesien jedoch weiterhin ein „sicherer Drittstaat“, der 100 Millionen Euro allein für Grenzsicherung erhält, Libyen bleibt trotz der völkerrechtswidrigen Rückführungen und vielfach belegten Menschenrechtsverletzungen EU-Partner.

Was tut die UNO-Flüchtlingshilfe?

 

Die UNO-Flüchtlingshilfe, der nationale Partner des UNHCR, fordert verstärkte Anstrengungen bei der Seenotrettung im Mittelmeer und einen klaren Verteilschlüssel für Gerettete.

Notwendig sind

  • eine Ausweitung der Seenotrettung,
  • und klare Regelungen für sichere Ausschiffung der Geretteten,
  • die Kooperation zwischen den Küstenstaaten und den Binnenstaaten, damit Erstaufnahmeländer nicht alleine gelassen werden.

Seit 2018 unterstützt die UNO-Flüchtlingshilfe die Arbeit mehrerer Organisationen im Mittelmeerraum.

MEHR ZUM THEMA SEENOTRETTUNG

 

Wie ist das EU-Asyl-Abkommen aus Eurer Sicht im Hinblick auf die Seenotrettung zu bewerten?

Anstatt die Sicherheit von Menschen auf der Flucht zum Beispiel durch verstärkte Seenotrettungskapazitäten oder die Schaffung regulärer Einreisemöglichkeiten nach Europa zu verbessern, greift die EU mit der GEAS-Reform die Grundfesten des Asylrechts und der Menschenrechte an. Besonders schockiert sind wir darüber, dass fliehende Menschen, die nach einer Rettung aus Seenot in der EU an Land gehen, künftig direkt in sogenannten Grenzverfahren abgefertigt werden sollen. Das bedeutet, dass die Geretteten, auch Familien mit Kindern, mit haftähnlichen Bedingungen und einer Abschiebung in Drittstaaten rechnen müssen.

Derartige unmenschliche Maßnahmen werden nach unserer Einschätzung die Fluchtbewegungen über das Mittelmeer nicht reduzieren.

Die Menschen, die fliehen, haben meist nichts mehr zu verlieren als das nackte Leben. Sie werden weiter versuchen zu fliehen. Diese Behandlung zur Grenzsicherung verschlechtert nur die ohnehin prekäre Lage schutzsuchender Menschen und höhlt ihre Rechte aus.

Was wünschst Du Dir für die Lage im Mittelmeer? Und was fordert Ihr als Organisation?

SOS Humanity fordert seit der Gründung vor acht Jahren, dass die EU ein europäisches, staatlich koordiniertes Seenotrettungsprogramm umsetzt. Obwohl im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung dieses Bestreben festgeschrieben wurde, und obwohl im ersten Halbjahr 2023 noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, hat sich nichts verbessert. Im Gegenteil, zivile Seenotrettung wird massiv behindert und kriminalisiert. Wir fordern von der Bundesregierung und der EU, dass sie zu ihren Versprechen stehen, dass sie geltendes Seerecht einhalten, welches zur Rettung verpflichtet und die Asyl- und Menschenrechte achtet. All das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Trotz aller Schwierigkeiten, auch der finanziellen durch stark gestiegene Kosten, werden wir unsere Rettungen fortsetzen, um sicherzustellen, dass kein Mensch mehr auf der Flucht ertrinken muss und alle mit Würde behandelt werden. Ich hoffe, dass wir weiterhin die notwendige Unterstützung aus der Zivilgesellschaft hierfür erhalten. Bei SOS Humanity sind wir sehr dankbar, dass die UNO-Flüchtlingshilfe unsere lebensrettende Arbeit unterstützt.

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